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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

gestreckt und hatte seinen Spazierstock als Stütze daruntergeschoben. Seinen Oberkörper beugte er seitwärts vornüber und starrte über den Schiffsrand in das wirbelnde Wasser, das schäumend von dem Rade spritzte. Das glattrasierte ausdrucksvolle Gesicht mit dem blonden Haar erinnerte an den Kopf eines Schauspielers. Eine nervöse Falte auf der breiten Stirn vertiefte sich langsam; lässig stützte er den linken Arm auf den Schiffsrand und begann mit dem zweiten und dem kleinen Finger einen Triller auf der Holzbrüstung zu spielen.

Mit einem kleinen Seufzer hatte sich das junge Mädchen von dem gleichförmigen Landschaftsbilde abgewandt und Platz genommen. Ihr Blick streifte ihr Gegenüber und blieb amüsiert an den unentwegt forttrillernden Fingern haften. Dann schlug sie den grauen Schleier ihres Reisehütchens zurück, nahm aus der Tasche ihres Regenmantels ein Büchlein und begann zu lesen. Ihr zartes blasses Profil mit den feingeschwungenen dunklen Augenbrauen und dem beseelten Ausdruck hob sich weiß und leuchtend von dem Grün der Wiesen ab, an denen der kleine zornige Dampfer prustend vorüberschwamm. Sie mochte die allererste Jugend überschritten haben, ein energischer Zug um die schmerzlich zusammengepreßten Lippen verriet, daß sie das Sich­bescheiden gelernt hatte.

Nun stolperte ein breitschultriger Mann herbei und fragte, ob die Herrschaften etwas zu speisen wünschten.

„Ich bitte um ein Glas Tee mit Zitrone,“ sagte das Fräulein kurz.

Empfohlene Zitierweise:
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/10&oldid=- (Version vom 31.7.2018)